Taubheit – kribbeln – brennen – kälte …

 

 

Polyneuropathien

Polyneuropathie (PNP) ist der Oberbegriff für generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die definitionsgemäß mehreren Nerven (griech. poly  = viele“, pathos = Leiden, Schmerzen, Erkrankung) betreffen.

Abhängig von der jeweiligen Ursache können motorische Nerven (= Muskelsteuerung), sensible Nerven (= Empfindungssteuerung) oder auch vegetative Nerven (=Steuerung von Organen z.B. Herz-Kreislauffunktionen, Schweißbildung, Temperaturregulation) gemeinsam oder auch schwerpunktmäßig betroffen sein.

Da die Nerven ähnlich einem Stromkabel aufgebaut sind, kann man sich die möglichen Schädigungen der Nerven als Schädigung der Isolierung oder der Drähte vorstellen. Erkrankung der Isolationsschicht der Nerven – das sogenannte Myelin – werden als demyelinisierende Schädigung beschrieben. Sind die „Drähte im Nerven“ – die Nervenfasern bzw. Axone – betroffen, spricht man von einer axonalen Schädigung des Nervens. Es können auch beide Schädigungsformen vorhanden sein.

Bei einer Polyneuropathie sind häufig eher die körperfernen Nerven (distal) an Händen und Füßen betroffen, selten die körpernahe (proximal) Nerven.

Das Verteilungsmuster der Nervenschädigung kann symmetrisch (d.h., dass z.B. beide Füße oder Unterschenkel betroffen sind) und / oder asymmetrische (fokale und multifokale) sein. Die häufigste Verteilungsform der PNP ist der distal-symmetrische Typ.

Die meisten Polyneuropathien entwickeln sich langsam über Monate oder Jahre (chronische Formen). Es gibt jedoch auch akute Formen (oftmals durch Entzündungen ausgelöst), bei denen sich die Polyneuropathie-Symptome innerhalb weniger Tage bis Wochen ausbilden (z.B. Guillain-Barré-Syndrom, akute Borreliose, Vaskulitis).

Es gibt ca. über 300 Ursachen für eine Polyneuropathie, wobei einige häufig sind und viele eher selten.

Mögliche Ursachen der Polyneuropathien sind (Auswahl):

  • Diabetes(die häufigste)
  • ÜbermäßigerAlkoholgenuss (zweithäufigste)
  • Infektionen (wie z. B.Hepatitis C, HIV-Infektion, Lyme-Borreliose, Gürtelrose)
  • Erbliche (hereditäre) Neuropathien (wie dasCharcot-Marie-Tooth-Hoffmann-Syndrom, familiäre Amyloid-Neuropathie)
  • Entzündliche Autoimmunerkrankungen / rheumatologische Erkrankungen (wie z. B.chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie, Vaskulitis, Sjögren-Syndrom und systemischer Lupus erythematodes)
  • Vitamin-B12-Mangel, Vitamin B6-Mangel, Thiaminmangel (Vitamin B1)
  • Stoffwechselstörungen (z.B. Hypothyreose, M.Fabry)
  • Giftstoffe, u. a. Schwermetalle wie Arsen,Blei und Quecksilber
  • Niereninsuffizienz
  • Mangeldurchblutung (z.B. bei pAVK)
  • Tumorerkrankungen (als sog. paraneoplastisches Syndrom oder auch direkte Nervenschädigung durch einwachsen in oder Druck auf Nerven)
  • Arzneimittel, u. a. das Antiepileptikum Phenytoin, einige Antibiotika (Chloramphenicol, Nitrofurantoin und Sulfonamide) sowie viele Chemotherapeutika

Diabetes mellitus und übermäßiger Alkoholkonsum sind die beiden häufigsten Ursachen für Nervenschädigungen und zusammen für ca. 50% der Polyneuropathien verantwortlich.

!!! Leider ist es immer noch so, dass bei ca. 30% der Polyneuropathie-Patienten keine Ursache gefunden werden kann. Bei Betroffenen über 40 Jahre liegt die Häufigkeit der sogenannten Chronisch idiopathischen axonale Polyneuropathie (CIAP; Polyneuropathie unbekannter Ursache) in Studien bei 26-28%.

Wichtig für die Diagnosefindung sind folgende Fragen:

  • Wie ist der zeitliche Verlauf der Nervenschädigung? Langsam oder schnell, fortschreitend oder anhaltend? Gibt es immer wieder phasenweise Verschlechterungen?
  • Gabe es bereits erste Symptome in jungen Jahren (Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter)?
  • Gibt es in der Familie Menschen mit ähnlichen Beschwerden?
  • Hatten Sie (früher / heute) übermäßigen oder längerfristigen Kontakt zu nervenschädigenden Substanzen (Alkohol, Drogen, Giftstoffe, Chemikalien, Medikamente)?

Die Symptome der Polyneuropathie können je nach Schädigung, betroffenem Nervenfasertyp und Körperregion sehr vielfältig sein:


Sensible Reiz- und Ausfallerscheinungen
·       Kribbeln
·       Ameisenlaufen
·       Wärme- und Kälteempfindungen
·       Stechen
·       Elektrisieren
·       glühend-brennende Schmerzen spontan und/oder bereits bei leichtester Berührung z. B. durch Kleidung
·       Juckreiz
·       Pelzigkeits- und Taubheitsgefühle
·       Gefühl des Eingeschnürtseins
·       Schwellungsgefühle
·       Gefühl des unangenehmen Drucks
·       Gefühl, wie auf Watte zu gehen ·
       Gangunsicherheit insbesondere bei Dunkelheit
·       verminderte bis hin zu aufgehobenen Temperaturempfindungen
·       schmerzlose Wunden  
Motorische Reiz- und Ausfallerscheinungen
·       Muskelzucken (Faszikulationen)
·       Muskelkrämpfe
·       Muskelschwäche
·       nachlassende Ausdauer (als erstes Symptom einer Muskelschwäche)
·       Muskelatrophie / Muskelschwund
·       Muskelschmerzen
·       Gangunsicherheiten
·       Gleichgewichtsstörungen
Autonome / vegetative Ausfallerscheinungen
·       Störung der Schweißbildung
·       Blutdruckschwankungen
·       Herzrhythmusstörungen
·       Verdauungsstörungen
·       Störung der Harnblasenfunktion
·       Erektionsstörungen

Viele Patienten mit einer Polyneuropathie beschreiben Schwindelgefühle bzw. Gleichgewichtsstörungen und Unsicherheiten beim Laufen (verstärkt bei Dämmerung oder Dunkelheit oder auf unebenem Grund). Dies kann gut durch die Fehlfunktion der peripheren Nerven erklärt werden, da diese für die Weitergabe ganz vieler Informationen von Messfühlern (Rezeptoren) aus der Haut, Muskeln, Gelenken, Sehnen etc. verantwortlich sind. Funktionieren die Nerven nicht richtig, können die Informationen, die unser Gehirn benötigt, um das Gleichgewicht zu stabilisieren oder das Gehen zu ermöglichen, nicht zeitnah oder nur anteilig verarbeitet werden – die Folge sind Unsicherheiten beim Stehen und Gehen.